Psychische Belastungen verhindern – mit System
Arbeitsintensität, emotionale Inanspruchnahme, Schichttätigkeiten, sich wiederholende Störungen, unprofessionelle Führung – die Einflüsse, die Psyche und Gefühlsleben eines Beschäftigten im Arbeitsumfeld negativ beeinflussen können, sind zahlreich und vielschichtig. Führen derartige Belastungen zu einer Arbeitsunfähigkeit - und damit zum temporären Ausfall des Mitarbeiters - oder im schlimmsten Fall zur Berufsunfähigkeit, also einem dauerhaften Ausfall, entstehen für Unternehmen und Institutionen hohe Kompensationsaufwände. Dabei reicht die Spanne von ungeplanten Kapazitätsanpassungen über Umsatzausfälle bis hin zum Verlust personenbezogenen Know-hows, wenn die nicht mehr zur Verfügung stehende Person wichtige Führungs- oder Fachverantwortung auf sich vereinte, so zum Beispiel als Teamleiter oder beauftragte Person zur Prüfung von Arbeitsmitteln.
Ohne Frage müssen deshalb die dadurch möglichen finanziellen und wirtschaftlichen Risiken unbedingt in jeder Organisation berücksichtigt und idealerweise abgewendet werden. Ein wichtiges Werkzeug zur Prävention stellt in diesem Zusammenhang die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung dar, die das Ziel verfolgt, Erkrankungsrisiken aufgrund psychischer Belastungen am Arbeitsplatz zu vermeiden.
Psychische Erkrankungen nehmen kontinuierlich zu
Der aktuelle DAK-Gesundheitsreport zeigt auf, dass der Anteil an Ausfalltagen aufgrund psychischer Erkrankungen im Jahr 2022 bei 15,1 Prozent lag. Außerdem war im Vergleich zum Vorjahr 2021 mit durchschnittlich 275,9 AU-Tagen pro 100 Versicherten in 2022 nunmehr mit einem Wert von 301,1 AU-Tagen ein nicht geringer Anstieg der Fehltage zu verzeichnen. Aus einer anderen Perspektive betrachtet, bedeutet die AU-Tage-Zahl, dass 2022 eine Krankschreibung aufgrund psychischer Krankheitsbilder im Durchschnitt 36,6 Tage andauerte und damit wesentlich länger als bei anderen Erkrankungen war. Die von Erkrankungen der Psyche verursachten Ausfalltage standen in der Gesamtschau 2022 auf dem dritten Platz aller Fehltage, gleich hinter den Erkrankungen des Atmungssystems (19,9 %) und des Muskel-Skelett-Systems (17,7 %).
Diese Zahlen sollten auf jeden Fall Anlass sein, Aktualität und Vollständigkeit der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen (GBU Psyche) im Unternehmen auf den Prüfstand zu stellen. Da Arbeitsbedingungen und Belastungsfaktoren im Arbeitsalltag nicht immer gleich bleiben, sondern Änderungen unterliegen, verpflichtet § 5 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) den Arbeitgeber zur regelmäßigen Überprüfung der (potenziellen) psychischen Belastungen. Die GBU Psyche ist somit keine Einmalmaßnahme, sondern erfordert eine kontinuierliche Betrachtung der Gefährdungen, die sich aus den psychischen Belastungen bei der Arbeit ergeben. Damit versetzt dieses Vorgehen den Arbeitgeber in die Lage, potentielle Belastungen frühzeitig zu erkennen und entsprechende Maßnahmen zur Abhilfe einzuleiten. Dabei ist jedoch vor allem auch an den Einsatz neuer Technologien und aktueller Arbeits(platz)modelle zu denken, die vor der Pandemie gar nicht in Betracht gekommen wären. Stichworte wie mobile Arbeit, Digitalisierung und immer höhere Leistungsfokussierung geben dafür erste Hinweise.
Was sind die Ursachen für psychische Belastungen am Arbeitsplatz?
Die DIN EN ISO 10075-1:2017 definiert psychische Belastungen als die Gesamtheit aller erfassbaren Einflüsse, die von außen auf den Menschen zukommen und diesen psychisch beeinflussen. Das Arbeitsprogramm Psyche der gemeinsamen deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) gibt in seiner Broschüre „Berücksichtigung psychischer Belastung in der Gefährdungsbeurteilung - Empfehlungen zur Umsetzung in der betrieblichen Praxis“ der Definition folgend sechs Bereiche an, aus denen sich arbeitsbedingte psychische Belastungen ergeben können:
- Arbeitsaufgabe (z. B. Handlungsspielraum oder emotionale Inanspruchnahme)
- Arbeitsorganisation (z. B. Arbeitsintensität oder Störungen)
- Arbeitszeit (z. B. Dauer oder Erholungszeiten)
- Soziale Beziehungen (Kollegen, Vorgesetzte)
- Arbeitsmittel (Arbeitsmittel, persönliche Schutzausrüstung)
- Arbeitsumgebung (physikalische, chemische, biologische und ergonomische Faktoren)
In sieben Schritten zur GBU Psyche
Eine Gefährdung durch psychische Belastung bei der Arbeit ist nach den Empfehlungen bereits dann zu bejahen, wenn von der Möglichkeit eines Schadens für die Gesundheit der Beschäftigten auszugehen ist, ohne nähere Anforderungen an die Eintrittswahrscheinlichkeit und/oder Schwere des gesundheitlichen Schadens.
Ob dies der Fall ist, d.h. ob eine potenzielle Gefährdung möglich ist, muss die GBU feststellen, für deren Umsetzung die GDA-Leitlinie „Gefährdungsbeurteilung und Dokumentation“ sieben Prozessschritte empfiehlt:
1. Festlegen von Arbeitsbereichen und Tätigkeiten
- tätigkeitsbezogene Gefährdungsbetrachtung unter Nutzung der Gruppenbetrachtung auf den Ebenen Tätigkeit oder Organisationsbereich
2. Ermitteln der Gefährdungen
- systematisches Identifizieren möglicher Gefährdungen durch psychische Belastung bei der Arbeit und deren Entstehungsbedingungen
- Einsatz von Mitarbeiterbefragungen, Beobachtungsinterviews und Workshops entsprechend der spezifischen Gegebenheiten
3. Beurteilen der Gefährdungen
- Betrachten des Umsetzungsstandes von Maßnahmen zur Reduzierung der Gefährdung
4. Festlegen konkreter Arbeitsschutzmaßnahmen
- Orientierung an den Grundsätzen aus § 4 ArbSchG (Zum Beispiel ist die Arbeit so zu gestalten, dass eine Gefährdung für das Leben sowie die physische und die psychische Gesundheit möglichst vermieden und die verbleibende Gefährdung möglichst gering gehalten wird.)
5. Durchführen der Maßnahmen
- Setzen von Prioritäten und zeitnahes Umsetzen der Maßnahmen
- Berücksichtigen möglicher Auswirkungen auf andere Arbeitsbereiche
6. Überprüfen der Wirksamkeit der Maßnahmen
- Kontrollieren der Umsetzung von festgelegten Maßnahmen
- Beurteilen, ob Maßnahmen die Gefährdung reduzieren konnten
7. Fortschreiben der Gefährdungsbeurteilung
- regelmäßiges Überprüfen der GBU auf Aktualität
- Aktualisierung der GBU, wenn sich zugrundeliegende Gegebenheiten geändert haben
Jede GBU kann nur so gut sein wie ihre Ersteller. Es ist daher aus Gründen der Rechtssicherheit immer darauf zu achten, dass bei den Verantwortlichen erforderliche Fachkenntnisse sowie Kompetenzen zur Identifikation und Beurteilung von psychischen Gefährdungen am Arbeitsplatz vorliegen, die ggf. von Vertretern wichtiger Bereiche wie Geschäftsleitung, Personal, Betriebsrat, Arbeitsschutz, Datenschutz usw. ergänzt werden. Hinzu kommt, dass die GBU nur als vorhanden gilt, wenn sie entsprechend dokumentiert wurde. § 6 ArbSchG schreibt dabei jedoch keine bestimmte Art von Unterlagen vor. Die Dokumentation kann in Papierform oder aber auch in elektronischer Form erfolgen. Zwingend ist die Erkennbarkeit, dass die Gefährdungsbeurteilung tatsächlich stattgefunden hat. Als Mindestinhalt sind Ausführungen zu folgenden Punkten empfohlen:
- Beurteilung der Gefährdungen/ Ergebnis der Gefährdungsbeurteilung
- Festlegung konkreter Arbeitsschutzmaßnahmen einschließlich Terminen und Verantwortlichen
- Durchführung der Maßnahmen
- Ergebnisse der Überprüfung der Wirksamkeit der durchgeführten Maßnahmen
- Datum der Erstellung/Aktualisierung
Zusammenfassend bleibt festzuhalten: Die GBU Psyche ist keineswegs eine Gefährdungsbeurteilung zweiter Klasse. Unternehmen und Organisationen sind gesetzlich verpflichtet, Risiko- sowie Gefährdungsfaktoren für die psychische Gesundheit ihrer Beschäftigten zu ermitteln sowie geeignete Abhilfemaßnahmen zu entwickeln, umzusetzen und auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen. Dieser Kreislauf muss regelmäßig durchgeführt werden, damit dauerhaft eine Rechtssicherheit besteht. Vernachlässigen Unternehmen ihre Pflicht und gefährden dadurch Leben oder Gesundheit eines Beschäftigten, ist neben dem wirtschaftlichen Ausfallrisiko des Beschäftigten mit Bußgeld- und Haftungsfolgen sowie auch Imageverlusten zu rechnen. Nicht zuletzt soll darauf verwiesen werden, dass bei der Vermeidung oder mindestens Verminderung psychischer Belastungen die Beschäftigten gegenüber allen anderen Gefährdungen eben auch mental deutlich sicherer aufgestellt sind. Jeder von uns kennt bestimmt selber solche Situationen, dass unter Stress die Sensibilität gegenüber anderen Risiken deutlich vermindert ist. Insgesamt alles Punkte, die sich mit einer ordnungsgemäßen GBU Psyche hätten vermeiden lassen.
Bleiben Sie wissbegierig!
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